By : Maja Tschumi
Grundlage dieses Artikels ist der monatliche „Iraq Report“ von Workers Against Sectarianism (WAS) aus dem Irak. Der Kontakt des re:volt magazine (Berlin) zu Aktivist*innen von WAS ist an einer Marx-Herbst-Schule Ende 2019 in Berlin entstanden, als im Irak gerade die Proteste ausgebrochen sind. Es folgte ein intensiver politischer Austausch mit dem Anspruch, das Verständnis und die Solidarität mit den irakischen Protesten in Europa zu stärken. Ende 2020 traf Maja Tschumi WAS-Aktivist*innen aus Bagdad in Kurdistan/Irak.
Am 21. Januar 2021 erschütterte ein doppeltes Bombenattentat Bagdad und forderte laut offiziellen Zahlen 32 Tote und 100 Verletzte (inoffiziell wird von 100 Toten gesprochen). Zwei Männer sprengten sich inmitten eines belebten Marktes in die Luft. Es war nach drei relativ ruhigen Jahren das erste Attentat dieses Ausmaßes in Bagdad. Ohne konkrete Beweise vorzulegen, erklärte sich der Islamische Staat (IS) für die Anschläge verantwortlich und ein Großteil der europäischen Presse übernahmen diese Behauptung, meist ohne die Anschläge in einen größeren Kontext der aktuellen Lage im Irak zu stellen. Im Irak gibt es zahlreiche bewaffnete Gruppen. So waren zum Beispiel die vom Iran unterstützen Milizen massgeblich beteiligt an der brutalen Niederschlagung der Proteste seit Oktober 2019 (mindestens 700 Tote und 30.000 Verletzte). Ihnen werden Anschläge auf US-Stellungen im Irak und zahlreiche gezielte Tötungen und Entführungen von Aktivist*innen nachgesagt. Doch der irakische Staat ist nicht in der Lage, diese Milizen dafür zur Rechenschaft zu ziehen und sie fungieren zunehmend als eine Art Staat im Staat. Diese pro-iranischen Milizen („Hashd al-Shaabi“) entstanden auf Geheiss des irakischen Großayatollah 2014 im Kampf gegen den IS. Sie wurden finanziell vor allem vom Iran unterstützt (zu Beginn auch von den USA). Nach dem Sieg über den IS wurden sie ins irakische Militär integriert, von diesem aber nie wirklich unter Kontrolle gebracht. Auch weil sie schiitisch-islamistischen Parteien und dem Iran dazu dienen, ihren politischen Einfluss im Irak auszuweiten.
Hierzulande lösten die Bombenanschläge in Bagdad Befürchtungen eines Wiedererstarkens des IS im Irak aus. Laut der Einschätzung von Aktivist*innen der klassenkämpferischen Basisorganisation WAS aus Bagdad müssen die Bombenanschläge jedoch mehr im Zusammenhang mit den anstehenden, vorgezogenen Wahlen betrachtet werden. Sie waren eine zentrale Forderung der Massenproteste 2019/2020. [1] Denn aufgrund der zahlreichen Checkpoints und Sicherheitskräfte in Bagdad zweifeln die Aktivist*innen daran, dass die IS-Attentäter so unbemerkt ins Zentrum der Stadt vordringen konnten. Auch wenn dies schwer zu bestätigende Vermutungen einer Komplizenschaft mit der Regierung sind, weisen sie doch auf eine zentrale Gefahr hin: Schiitisch-islamistische Parteien in der Regierung könnten von einem Terror-Anschlag des IS insofern profitieren, als es ihnen das Argument liefert, schiitisch-islamistischen Kräfte stärken zu müssen, um die Bevölkerung vor dem IS zu schützen. Das ist ein Narrativ, welches im Krieg gegen den Islamischen Staat 2014 bis 2017 entstanden ist. Unterdessen sind die pro-iranischen Milizen selbst eine Gefahr für die Sicherheit der Bevölkerung geworden. Und tatsächlich stellte in der Nacht vom 9. Februar 2021 eine Miliz der Sadr-Bewegung in Bagdad, Najaf und Kerbala ihre Waffen zur Schau. [2] Sie sperrten Straßen und besetzten sunnitische Stadtviertel. Erneut scheinen sich also die konfessionellen Spannungen im Vorfeld der Wahlen zuzuspitzen.
Im Oktober 2019 ging die junge Generation in Bagdad und in südlichen Provinzen des Irak unter dem Slogan „We want a homeland“ massenhaft auf die Straße, besetzte Plätze und organisierte sich gegen mangelnde wirtschaftliche Möglichkeiten, ausufernde Korruption, ein sektiererische Parteiensystem und die imperiale Einmischung in die irakische Politik und Wirtschaft. [3] Zentrale Forderungen zu Beginn der Proteste 2019 waren: stabile Elektrizität und Wasser, weniger Korruption und mehr Arbeit (ca. 30 Prozent der Männer und ca. 60 Prozent der Frauen* unter 24 Jahren sind arbeitslos). Aufgrund der Repression eskalierte der Protest zu einem nationalen Aufstand mit der umfassenden Forderung, die Regierung zu stürzen und den iranischen Einfluss im Irak zu stoppen.
Trotz massiver und brutalster Repression gelang es dem sogenannten October Uprising eine große Sicherheit auf den besetzten Plätzen zu erreichen. Die Platzbesetzungen wie z.B. auf dem Tahrir Platz in Bagdad waren ein wesentliches Merkmal und eine wesentliche Errungenschaft der Protestierenden. Schließlich gelang es ihnen, den seit 2018 amtierenden Premierminister Adil Ab al-Mahdi (seit 2017 unabhängiger schiitischer Politiker, zuvor Mitglieder der iranfreundlichen, schiitisch islamistisch Partei „Oberster Islamischer Rat im Irak”) im November 2019 zum Rücktritt zu zwingen. Die Entscheidung, vorgezogene Wahlen abzuhalten, wurde dann von der Regierung unter Premierminister Mustafa Al-Kadhimi (ein USA- und Kapital-freundlicher, parteiloser Schiit und Ex-Geheimdienstchef) getroffen, der im Mai als Übergangpräsident eingesetzt wurde. Damit antwortete er auf eine zentrale Forderung der Proteste in der Hoffnung, diese damit zu deeskalieren und ihre Wut auf das sektiererische Politik- und Parteiensystem zu besänftigen.
Seit 2011 hat der Irak in regelmässigen Abständen Proteste erlebt. Die Proteste 2019/2020 gingen allerdings in ihrer Quantität und in ihrer Qualität über alle Proteste seit 2003 hinaus. Zum einen lehnte der Großteil der Protestierenden den Fokus auf Identitätspolitik mit ihren konfessionelle Spaltungen ab und betonten stattdessen die ökonomischen, sozialen und politischen Missstände. Zum anderen war die Beteiligung von Frauen* am October Uprising bemerkenswert. Während die protestierenden Männer vor allem der Arbeiterklasse und den unteren Schichten angehörten, waren Frauen* verschiedener Schichten und Klassen auf der Straße. Unter den Frauen* konnte man, so berichten WAS, eine klassenübergreifende Solidarität feststellen. Dies würde daran liegen, dass der Kampf für Frauen*rechte und politischer Mitbestimmung im sehr patriarchalen Irak Frauen* verschiedener Klassen zusammenschweisst.
Die Forderungen der Demonstranten liefen von Anfang an unter dem Slogan „We want a Homeland” zusammen. Er drückt das Gefühl einer Post-US-Invasion-Generation aus, keine Heimat zu haben – und zwar im doppelten Sinne: 1. kein lebenswertes Leben führen zu können und 2. in einem Land zu leben, das seit langem mehr von äußeren – den USA und dem Iran – als von inneren Kräften gelenkt wird. So wurde die irakische Flagge während den Protesten zu einem Symbol. Sie sollte ausdrücken, dass die Menschen im Irak unabhängig von imperialen Interventionen und Einflüssen selber über die Zukunft des Iraks entscheiden wollen. Es gab aber auch eine kritische Debatte unter den Protestierenden über die Flagge, ob man sie zum Beispiel verändern soll und wie man sie inklusiver gestalten könnte. Denn im Namen der irakischen Flagge wurde in der Geschichte des Iraks sehr viel konfessionell und ethnisch begründetes Unrecht von Seiten des Staates begangen. Die Überwindung sektiererischer und ethnischer Spaltungen war aber gerade ein zentrales Anliegen der Protestierenden, dem sich die meisten Bewegungen unterordneten. So betonten zum Beispiel auch Frauen*organisationen, die an den Protesten und den Platzbesetzungen teilnahmen, dass sie nicht in erster Linie eine Frauen*revolution forderten, sondern sich als Teil der gesamten Bewegung verstehen. Dies zeigt aber – gerade in Bezug auf Frauen*bewegungen – auch auf, in welchem Verhandlungsspielraum sie sich befinden und dass für sie die Strategie der Solidarisierung im heutigen Irak vielversprechender ist als eine Strategie der Spaltung.
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