Von Maurizio Coppola
Die irakische Regierung verhängt die Ausgangssperre und schließt Schulen, Universitäten und Einkaufszentren. Gleichzeitig werden die Lebensbedingungen aufgrund des mangelnden sozialen und gesundheitlichen Schutzes immer prekärer. Wie steht es um den Tahrir-Platz als Ort des sozialen Widerstands?
Auch hinsichtlich der sozialen Proteste, die im vergangenen Jahr praktisch die ganze Region erfasst haben, produziert das Virus wichtige Veränderungen: In Algerien beschlossen die Studierenden, die seit über einem Jahr jeden Dienstag auf die Straße gehen, ihre Demonstrationen vorübergehend auszusetzen. Der algerische Präsident Abdelmadjid Tebboune, der von der sozialen Bewegung (dem Hirak) weiterhin abgelehnt wird, verhängte zudem ein generelles Versammlungs- und Demonstrationsverbot. Nach anfänglicher Unentschlossenheit und Diskussionen innerhalb des Hiraks wurden nun auch die Freitagsdemonstrationen bis auf weiteres abgesagt. Auch im Libanon bremste die zunehmende Verbreitung des Virus die Proteste. Wie greifen im Irak die Verschärfung der Prekarität und der sozialen Unsicherheit und die Frage nach demokratischer Organisierung ineinander?
Die irakische Regierung hat eine vorübergehende Ausgangssperre und die Schließung von Schulen, Universitäten und Einkaufszentren beschlossen. Auch Kinos, Restaurants und Bars bleiben geschlossen. Religiöse Einrichtungen haben religiöse Aktivitäten und Versammlungen ausgesetzt. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums gibt es derzeit 382 Fälle von Covid19, davon 36 Tote (Stand 27.03.2020). Angesichts des Mangels an durchgeführten Tests dürfte die Zahl jedoch weit höher liegen.
Eine erste Lektion, die wir aus diesen ersten Wochen der Corona-Krise ziehen können, ist, dass die Auswirkungen des Virus sozial ungleich verteilt sind (im re:volt magazine wurde dies etwa mit Blick auf Deutschland, Italien oder den Care-Bereich angerissen). In den meisten Ländern wurde auf der einen Seite zwar das gesellschaftliche Leben zur Eindämmung des Virus fast vollständig blockiert, auf der anderen Seite wurde die Warenproduktion (materielle Güter und Dienstleistungen) allerdings weitergeführt – oft ohne oder nur unzureichenden gesundheitlichen und sozialen Schutzmaßnahmen.
Die ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen der Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas unterscheiden sich nun aber wesentlich von denen der westlichen Länder. Wie eine Unesco-Studie zum irakischen Arbeitsmarkt zeigt, arbeiten zwei Drittel der irakischen Arbeit*innen im informellen Sektor, dieser macht 99 Prozent der Privatwirtschaft aus. Die Informalität bietet keine sicheren Löhne und sozialen Sicherheitsnetze im Falle von Lohnausfall. „Die Arbeiter*innen erleben eine Tragödie, denn die große Mehrheit lebt von der Hand in den Mund. Arbeitslose und informelle Arbeiter*innen haben kein regelmäßiges Einkommen und daher keine Ersparnisse und keinen Sozialversicherungsschutz im Falle von Lohnausfall. Heute befinden sie sich in lebensbedrohlichen Schwierigkeiten: Es fehlt ihnen schlicht an Geld, um Lebensmittel zu kaufen“, berichtet Sami Adnan, ein 28-jähriger Arbeitsloser und Aktivist aus Bagdad. Adnan ist bei Workers Against Sectarianism aktiv, einer politischen Gruppe, die sich zu Beginn der sozialen Proteste gegen das sektiererische System und gegen die sozialen Ungleichheiten gebildet hat.
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